Anna-Lena Klapp

Marsch zur Schließung aller Schlachthäuser: eine (zu) radikale Forderung?

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Der Marsch zur Schließung aller Schlachthäuser fand bereits 2013 in Paris, Toulouse, Toronto, Istanbul, London, Sao Paulo und Rio de Janeiro statt. Dieses Jahr ist auch Deutschland mit dabei, genauer gesagt die Stadt Kassel. Die Demonstration fordert die Schließung aller Schlachthäuser. Aller Schlachthäuser? Wie jetzt, im Ernst? Diese Forderung ist doch viel zu radikal! Da findet man bei der breiten Masse doch gar keinen Anklang und die Demo verpufft noch bevor sie angefangen hat. Außerdem wo kämen wir denn da hin? Wir könnten kein Fleisch mehr essen, die ganzen Arbeitsplätze, die verloren gehen und nicht zu vergessen: Was machen wir mit den ganzen Tieren die dann „übrig“ bleiben?

Nun fangen wir mal bei dem Thema Fleisch an. In Deutschland lehnen ca. 20 Millionen Menschen das Töten von Tieren zur Gewinnung von Lebensmitteln und Bekleidung ab. (Grube 2009, 129) Dem entgegen stehen jedoch nur etwa 700.000 vegan lebende Menschen in Deutschland. Warum so viele Menschen theoretisch einen veganen Lebensstil befürworten, aber nur wenige ihn leben, kann man mit der Ideologie, die Melanie Joy, Professorin für Psychologie und Soziologie, als „Karnismus“ bezeichnet, versuchen zu erklären. Karnismus ist die Ideologie des Fleischessens, ein quasi unsichtbares Glaubenssystem, welches Menschen dazu konditioniert, bestimmte Tiere zu essen und andere zu lieben (Haustiere). Im Grunde ist es das Gegenteil des Veganismus.

Die meisten von uns wollen niemandem Leid zufügen, weder Menschen noch Tieren… Aus diesem Grund besitzen gewalttätige Ideologien besondere Abwehrmechanismen, die es human denkenden Menschen ermöglichen, inhumane Praktiken zu unterstützen und dabei gar nicht zu merken, was sie tun.

Joy 2013, 36

Die meisten Menschen wissen zwar, dass Fleisch von einem Tier stammt, bringen dies aber nicht mit dem was auf ihrem Teller liegt in Verbindung, „[…] weil die meisten von uns auf einer gewissen Bewusstseinsebene nicht wissen wollen, wie es in Wirklichkeit ist.“ (Joy 2013, 81) Wir sind mit der Vorstellung aufgewachsen, dass es richtig ist, Tiere zu essen. Das ist eine soziale Norm, an der kaum gerüttelt wird. Der Karnismus hält uns davon ab, diese Norm zu hinterfragen. Es ist also die Aufgabe jedes Einzelnen, eigene und fremde Werte, Handlungen, Annahmen und Überzeugungen kritisch zu reflektieren. An dieser Stelle möchte ich lediglich noch darauf hinweisen, dass viele Verbrechen in der Geschichte der Norm bzw. den geltenden Gesetzen entsprachen, was diese Verbrechen nicht weniger „falsch“ oder weniger „schlecht“ macht.

Ein weiteres beliebtes Argument sind die Arbeitsplätze. Mal abgesehen davon, dass sich durchaus neue Arbeitszweige durch den Wegfall der Schlachthöfe bilden würden (vegane Produktionsfirmen usw.) stellt sich die Frage, was für Arbeitsplätze dort denn erhalten bleiben sollen. Kritiker beschreiben die Zustände auf deutschen Schlachthöfen schon seit Langem als eine moderne Form der Sklaverei.

Im Akkord schuften dort Arbeiter aus Osteuropa, zum Teil für Niedrigstlöhne. Die Arbeit ist eintönig, anstrengend und gefährlich. Betroffen sind keineswegs nur ein paar schwarze Schafe in der Branche. Der knallharte Preis- und Konkurrenzkampf ums billige Fleisch zwingt offenbar so gut wie jeden größeren Betrieb dazu, unter sehr fragwürdigen Bedingungen zu produzieren. Das jedenfalls ist das Ergebnis einer Untersuchung des NRW-Arbeitsministeriums, das Minister Guntram Schneider (SPD) vorgestellt hat.

Kellers, 2013

Ein weiterer Punkt macht deutlich, dass nicht nur Tiere sondern auch Menschen Opfer der Fleischindustrie sind. So zitiert die US-amerikanische Psychologin Melanie Joy in ihrem Buch Warum wir Hunden lieben, Schweine essen und Kühe anziehen erschreckende Interviewausschnitte von Arbeitern in der Fleischindustrie:

Das Schlimmste, schlimmer als die körperliche Gefahr, ist der emotionale Preis, den man zahlt. Wenn man eine Zeitlang als Stecher arbeitet, entwickelt man eine Einstellung, mit der man töten, aber nichts mehr empfinden kann. Da schaut man dann vielleicht einem Schwein in die Augen, das unten im Tötungsbereich bei einem herumläuft, und denkt sich: „Gott, sieht doch eigentlich ganz nett aus, das Tier.“ Man möchte es vielleicht sogar streicheln. Im Schlachtbereich sind Schweine zu mir hergekommen, die haben mich beschnuppert wie ein kleiner Hund. Zwei Minuten später musste ich sie töten […]. Ich empfinde dabei nichts mehr.

Joy 2013, 94

Ist es wirklich erstrebenswert solche Arbeitsplätze weiter zu erhalten?

Dann wäre da noch die Überlegung, wo all die Tiere hin sollen, wenn die Menschen von heute auf morgen vegan wären bzw. alle Schlachthäuser schließen würden. Was viele dabei vergessen ist, dass unsere „Nutztiere“ nicht unter natürlichen Umständen geboren, sondern gezüchtet werden. Hört der Mensch auf in die Fortpflanzung der Tiere einzugreifen, werden automatisch weniger Tiere geboren. Weiterhin ist es unrealistisch anzunehmen, dass alle über Nacht aufhören, Tiere zu essen bzw. sofort alle Schlachthäuser schließen. Die Nachfrage wird sinken, der Tierbestand wird zurückgehen und die übrigen Tiere können auf den riesigen Ackerflächen, die bisher für Futtermittel gedient haben, leben.

Und nun zur Frage ob diese Forderung (zu) radikal ist. Was bedeutet eigentlich „Radikalismus“? Als Radikalismus bezeichnet man eine politische Einstellung, die grundlegende Veränderungen an einer herrschenden Gesellschaftsordnung anstrebt. Soweit so gut. Und nun eine Gegenfrage: War die Forderung Martin Luther Kings nach einer totalen Gleichberechtigung für Schwarze und Weiße radikal? War die Forderung der Frauenrechtsbewegung nach totaler Gleichberechtigung für Mann und Frau radikal? Wenn man nach der Definition, geht waren sie das. Und waren diese Forderungen deshalb falsch?

Wie wäre denn die Geschichte verlaufen, wenn Martin Luther King damals nur „ein kleines bisschen“ mehr Rechte gefordert hätte? Was wäre, wenn die Feministinnen der 1960er Jahre nur für ein bisschen mehr Gleichberechtigung gekämpft hätten? Man kann es nicht mit 100%iger Sicherheit sagen, aber man kann wohl stark davon ausgehen, dass genau diese „Ich-will-niemandem-auf-den-Schlips-treten“-Forderungen verpufft wären.

Somit kann die Frage, ob die Forderung zur Schließung aller Schlachthäuser radikal ist, mit einem „Ja“ beantwortet werden. Oder passender mit einem: Ja und? Denn radikale Forderungen sind nicht partout etwas Schlechtes. Und das Fazit dieses Textes könnte nicht passender gezogen werden als mit den Worten Martin Luther Kings:

Es ist nicht die Frage ob wir Extremisten sein wollen, sondern vielmehr, Extremisten welcher Art. Wollen wir Extremisten für den Hass oder für die Liebe sein?

Martin Luther King Jr.

Quellen

  • Grube, Angela (2009): Vegane Lebensstile, 3.Auflage, ibidem Verlag, Stuttgart.
  • Joy, Melanie (2013): Warum wir Hunde, lieben Schweine essen und Kühe anziehen, 1. Auflage, compassion media, Münster.
  • Kellers, Rainer (2013): Damit Fleisch billig bleibt, http://www1.wdr.de/themen/politik/werksvertraege100.html (Stand 02.06.2014).

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Kommentare

  • 30. Mai 2016 um 0:50
    Permalink

    Ein ganz wunderbarer Blogeintrag, der die Widersprüche sehr gut beleuchtet und so wirklich Verständnis oder wenigstens einen Schritt in die „richtige“ Richtung schafft.

    Antworten